Dem Heinerhofbauern sein Knecht: Der Krüppel

Dem Heinerhofbauern sein Knecht - Foto: Heinerhofbauer
Dem Heinerhofbauern sein Knecht – Foto: Heinerhofbauer

So ein Krüppel, sagt der Knecht, sei auch kein schlechterer Mensch, als einer, der kein Krüppel ist. Ein besserer aber auch nicht. Schlechter laufen könne er halt, als einer, der gut zu Fuß ist. Bis vor vierzehn Tagen sei er jedenfalls überzeugt gewesen, daß dem so sei. Zwar sei er jetzt wieder weg, der Krüppel, aber vor drei Wochen hätten sie einen aufgenommen auf dem Heinerhof. Das Ganze sei auf dem Mist der neuen Pfarrerin unten im Dorf gewachsen. Die habe so lange auf die Bäuerin eingeredet – und die dann wiederum auf den Heinerhofbauern -, daß der Bauer sich letztlich habe breitschlagen lassen und den Krüppel auf dem Heinerhof aufgenommen hat im Rahmen der “Aktion Teilhabe”, welche die Pfarrerin ins Leben gerufen hatte. Um die “Teilhabe am gesellschaftlichen Leben” sei es ihr dabei gegangen. Allerdings habe er sich vor drei Wochen schon gefragt, wie es komme, daß der Bauer, die Bäuerin und er selbst auf einmal zur Gesellschaft geworden sind. Vorher seien sie nur die Leute vom Heinerhof gewesen.

Die neue Pfarrerin im Dorf unten habe eben nichts als Flausen im Kopf. Einer, der auf dem Heinerhof nicht mit anpacken kann, sei bei der Arbeit eben doch ein schlechterer Mensch. Jedenfalls habe der Krüppel am gesellschaftlichen Leben auf dem Heinerhof nicht richtig teilhaben können, weswegen das Ganze auch ein Schlag ins Wasser geworden sei. Davon, daß einer die Arbeit erledigen würde, wenn er könnte, wird die Wiese auch nicht gemäht. Am Anfang habe er sich noch richtig Mühe gegeben, sagt der Knecht. Es sei aber auf die Dauer zu mühselig geworden, den Krüppel im Rollstuhl durch den Kuhstall zu schieben, damit er am Ausmisten teilhaben kann.

Ich kenne den Kuhstall auf dem Heinerhof. Dort gibt es einen breiten, betonierten Mittelgang, auf dem der Mist aus den Boxen landet. Wenn alle Boxen ausgemistet sind, kommt ein Planierschild zum Einsatz, hinter dem der Knecht auf dem Mittelgang herläuft. Von einem Elektromotor wird der große Mistschaber über Seilzüge durch den Gang gezogen. Dabei kratzt er über den betonierten Boden, und der zusammengeschabte Mist landet auf dem Misthaufen vor dem Stall.

Um dem Krüppel die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben auf dem Heinerhof auch wirklich zu ermöglichen und das Ganze dennoch etwas weniger mühselig zu gestalten, hatte der Knecht ein dünnes Drahtseil am Rollstuhl des Teilhabekrüppels befestigt und es dann mit einem Karabinerhaken am Planierschild eingehängt. Eingeschärft habe er dem Krüppel, daß er den Karabinerhaken früh genug vom Planierschild lösen muß, bevor der Mistschaber zur Stalltür hinausgezogen wird. Aber noch nicht einmal das habe der Teilhabekrüppel hinbekommen. Jedenfalls sei es mit der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben im Kuhstall vorbei gewesen, als der Krüppel zeternd auf dem Misthaufen gelegen hat, während der Rollstuhl vom Seil herab über seinem Kopf baumelte. So ein Krüppel sei schon empfindlich, sagt der Knecht, Teilhabe hin oder her.

Nachdem er ihn mühsam aus dem Misthaufen wieder herausgezogen – und in seinen Rollstuhl zurückgesetzt hatte, erzählt der Knecht, habe der Krüppel natürlich gereinigt werden müssen, ehe daran zu denken war, ihn ins Haus zurück zu schieben. Da habe es gar keine andere Wahl gegeben, als ihn vor die Maschinenhalle hinüberzurollern, wo sich der Wasseranschluß für den Hochdruckreiniger befindet. Daß es schon Ende Oktober gewesen sei, und daß es auf dem Heinerhof zu dieser Jahreszeit schon jeden Tag Morgenfrost hat, sei zwar ein wenig ungünstig gewesen, aber geändert habe das an der Tatsache nichts, daß der Krüppel nur außerhalb des Hauses vom Mist gereinigt werden konnte. Deswegen habe er bei allem Verständnis für die Notwendigkeit der Teilhabe von Krüppeln am gesellschaftlichen Leben nichts geben können auf das Geschrei im Rollstuhl. Der Krüppel sei eben auch im Schritt voller Mist gewesen und etwas anderes als den Hochdruckreiniger gebe es vor der Scheune nicht, so der Knecht. Schön sauber sei er jedenfalls geworden. Auch der Rollstuhl habe nach der Wäsche mit dem Hochdruckreiniger gefunkelt wie frisch aus der Fabrik.

Weil es wegen der Rutschgefahr gefährlich sei, wenn Wasser auf den Fliesen im ungeheizten Hausflur gefriert, habe er den hochdruckgereinigten Krüppel erst einmal vor der Maschinenhalle stehen lassen, bis er einigermaßen trockengefroren war. Dann erst habe er ihn ins Haus geschoben und auf einem großen Lappen vor dem Kachelofen in der Küche abgestellt. Undank sei der Welt Lohn, meint er Knecht. Der hochdruckgereinigte Teilhabekrüppel habe ihm bibbernd alle möglichen Schimpfwörter an den Kopf geworfen. Zu bunt sei es dem Knecht dann aber geworden, als ihn der Krüppel auch noch belehren wollte, so, als wüßte der Knecht nicht selbst, wer auf dem Heinerhof wie bezeichnet wird. Der Knecht solle aufhören, ihn dauernd einen “Krüppel” zu nennen. Er sei kein Krüppel, sondern ein Herausgeforderter, genauer: Ein Mobilitätsherausgeforderter. Der Knecht, erzählte er mir, habe ihm dann geantwortet, daß “Mobilitätsherausgeforderter” zu umständlich sei. Ob der Krüppel damit einverstanden sei, wenn er ihn künftig als “Mobikrüppel” bezeichnet, und daß das ein Vorschlag zur Güte sei. Die Güte sei ein wertvoller Charakterzug. Der Krüppel habe aber gar nicht daran gedacht, gütig zu sein. Vielmehr habe er den Knecht als elenden Mistschaufler und saudumme Eismörderbestie bezeichnet. Erst ab da sei ihm der Krüppel so richtig unsympathisch geworden. Und zwar völlig zu Recht. Der Herr im Himmel könne nämlich ebenfalls nicht viel Sympathie für den Krüppel gehabt haben, weil er ihm sonst keine Lungenentzündung geschickt hätte zur Strafe.

Der Krüppel habe dann ein paar Tage lang sehr wenig Teilhabe am gesellschaftlichen Leben auf dem Heinerhof gehabt, weil er das Bett hüten mußte, während der Bauer, die Bäuerin und er selbst ihrem Tagwerk nachgegangen seien. Bis heute sei nicht geklärt, wie der Reißnagel unter den linken Reifen des Rollstuhls gekommen ist. Als die Bäuerin dem Krüppel ein paar Tage später aus dem Bett geholfen hat, um ihn wieder in seinen Rollstuhl zu setzen, habe der jedenfalls auf der Stelle einen Platten gehabt. Glück im Unglück, so der Knecht. Er flicke lieber einen Reifen, als mit der Bäuerin zusammen in der Stube zu sitzen, um Kastanien für Maroni und Kastanienmännchen auszusortieren. Das habe dann der Krüppel übernommen, während er, der Knecht, in aller Ruhe den Rollstuhlreifen flickte.

Der namibische Großgrundbesitzer

Jedenfalls habe der Krüppel beim Kastaniensortieren der Bäuerin erzählt, wie er zum Krüppel geworden ist. Daß er nicht mehr laufen könne, sei einer Schußverletzung geschuldet, die er beim Kampf gegen die Neger in Deutsch-Südwest erlitten habe. So habe er das gesagt. Die hätten ihm sein Land klauen wollen und dagegen habe er sich verteidigt. Letztlich hätten die Neger sein Land dann doch bekommen und er habe sich entschlossen, ins Kaiserreich zurückzukehren, und nur, um festzustellen, daß in dem Behindertenheim für die Krüppel unten im Tal auch schon ein Neger das Kommando hatte. Und daß es das Kaiserreich gar nicht mehr gibt, das habe er ebenfalls festgestellt. Und daß er von dieser Feststellung auch noch depressiv geworden sei.

Als er mit dem Reifenflicken fertig gewesen ist, so der Knecht, habe er sich nämlich gewundert, daß die Bäuerin den Krüppel auf einmal mit “Herr von Trotha” ansprach. Auf die Frage an die Bäuerin, wie sie darauf gekommen sei, den Krüppel so zu nennen, habe sie ihm die Geschichte von der Schußverletzung weitererzählt. Bei dem empfindlichen Krüppel handele es sich um einen Nachfahren des ehemaligen Kommandeurs der kaiserlichen Schutztruppen in Deutsch-Südwest, dem heutigen Namibia. Der Knecht erzählt, er habe gestaunt, als er das erfahren hat, und daß ihm der mimosenhafte Krüppel davon auch nicht wieder sympathisch geworden sei. Er kenne nämlich den Chef des Behindertenheimes unten im Tal. Der sei eigentlich ein lustiger Kerl, schwarz wie er ist. Wer den, so wie der Trotha-Krüppel, einfach als Neger bezeichne, müsse wohl ein arger Rassist sein. Es gebe angenehmere Zeitgenossen, als ausgerechnet einen völlig verarmten Rassistenkrüppel, der wegen jeder Kleinigkeit gleich eine Lungenentzündung bekommt und sich dann auch noch darüber beschwert, daß man ihn mit dem Hochdruckreiniger gesäubert hat, obwohl er eindeutig selber schuld daran ist, weil er zu dumm gewesen war, einen Karabinerhaken im Kuhstall rechtzeitig zu lösen. Teilhabe am gesellschaftlichen Leben auf dem Heinerhof hin oder her. Jedenfalls sei ihm eine Idee gekommen, wie er das Krüppelexperiment auf dem Heinerhof wieder beenden kann.

Weil das Behindertenheim unten im Tal eine kirchliche Einrichtung sei, so der Knecht, habe er sich in den Unimog gesetzt und sei ins Dorf hinunter gefahren, um der neuen Pfarrerin einen Besuch abzustatten. Die habe nämlich nicht nur die “Aktion Teilhabe” ins Leben gerufen, sondern sie sitze außerdem noch im Beirat des Krüppelheims. Er habe sie gerade noch erwischt, bevor sie zu ihrem feministischen Kaffekränzchen aufbrach. Brühwarm habe er ihr erzählt, daß es sich bei dem Krüppel, den sie zu gesellschaftlichen Teilhabezwecken auf den Heinerhof geschickt hatte, um einen üblen Rassisten handelt, der den lustigen Roberto – den Heimleiter also – einen Neger genannt habe, und daß es sich bei ihrem Teilhabekrüppel auf dem Heinerhof in Wahrheit um einen Rassistenkrüppel namens “von Trotha” handelt.

Ob sie das gewußt habe, daß der so heißt und wo er herkommt, und ob sie sich nicht schäme, anständigen Leuten wie ihm, dem Bauern und der Bäuerin, einen solchen Rassisten auf den Hals zu hetzen, habe er sie gefragt. Die neue Pfarrerin sei daraufhin vor lauter Scham und Entsetzen rot angelaufen, ehe sie einen Wutausbruch bekommen habe. Der Krüppel habe sich seinen Platz im Behindertenheim als “Ludwig Trotter” ergaunert, soll sie geschrien haben. In seinem Ausweis habe gar nichts von einem “von Trotha” gestanden. Niemals hätte der namibische Rassistenkrüppel aus Afrika einen Platz in der kirchlichen Einrichtung im Dorf unten erhalten, wenn sie gewußt hätte, um wen es sich tatsächlich handelt. Selbstverständlich werde sie dafür sorgen, daß der unverschämte Krüppel vom Heinerhof wieder abgeholt wird, es tue ihr leid. Außerdem wolle sie dafür sorgen, daß der Krüppel seinen Platz im Behindertenheim wieder verliert und die Kirche nicht mehr betreten darf.

Der Knecht habe sie ein wenig beschwichtigt, sagt er, ihr sogar noch erzählt, daß es nicht gar so eilig sei, weil der Krüppel noch nicht ganz von seiner Lungenentzündung genesen war. Nicht schlecht gestaunt habe er über die Antwort der neuen Pfarrerin. Der Knecht hätte ihn wegen der antirassistischen Nächstenliebe ruhig ein wenig länger vor der Maschinenhalle gefriertrocknen dürfen, habe sie zwischen ihren Zähnen hervorgepresst wie eine zischelnde Schlange. Gleich danach habe sie aber wieder ihr widerlich bigottes  Gelächel im Gesicht gehabt. Als sie ihm dann mit der gesellschaftlichen Teilhabe von sexistisch verfolgten Hinübergeschlechtlichen aus Hinterindien gekommen sei, denen ein wenig frische Bergluft ganz gut täte, habe er abgewunken und gesagt, das sei eine ganz hervorragende Idee, aber leider habe er jetzt keine Zeit mehr, weil er auf den Heinerhof zurück müsse. Dort warte eine Menge Arbeit auf ihn.

Das Ende

Tatsächlich sei der behinderte Trotha am nächsten Tag vom kirchlichen Krüppelfahrdienst abgeholt worden, so der Knecht. Weil er aber seinen Platz in der Krüppelanstalt nicht wieder zurückbekommen hat, sei er inzwischen zu einem Gemeindeärgernis geworden. Den ganzen Tag stehe er mit seinem Rollstuhl auf dem Marktplatz und singe, lauthals protestierend gegen die Verkommenheit hinter seinem Rauswurf aus dem kirchlichen Behindertenheim, das Südwesterlied. Kein Mensch weiß, wo er das Megaphon herhat.

“Hart wie Kameldornholz ist unser Land
und trocken sind seine Riviere.
Die Klippen, sie sind von der Sonne verbrannt,
und scheu sind im Busche die Tiere.
Und sollte man uns fragen:
Was hält euch denn hier fest?
Wir könnten nur sagen:
Wir lieben Südwest!”

Irgendwann werden sie ihn wohl in die Stadt abschieben, meint der Knecht. Dort sei er dann endlich gut aufgehoben, weil es in der Stadt sowieso schon vor völlig verrückten Gestalten wimmelt. Da passe er hin, der von Trotha, der Saukrüppel, der behinderte. Die neue Pfarrerin sei schließlich ebenfalls aus der Stadt gekommen. Wenn er jetzt noch wüßte, wie er die neue Pfarrerin im Dorf unten wieder loswird, so der Knecht, könne er mit jener gewöhnlichen Zuversicht der Ankunft des Herrn an Weihnachten entgegensehen, die ihm bisher noch jedes Jahr den Herbst versüßt hat. Der Zeitgeist mache ihm einfach schwer zu schaffen. Es gibt kaum jemanden, den ich so gut verstehen kann wie dem Heinerhofbauern seinen Knecht.