
Nach einem langen Sommer war es wieder einmal Zeit geworden, dem Heinerhofbauern seinem Knecht einen Besuch abzustatten. Der Heinerhofbauer hatte dieses Jahr zum ersten Mal Ferien auf dem Bauernhof angeboten und über verschiedene Reisebüros vertreiben lassen. Neugieriger Mensch, der ich bin, wollte ich vom Knecht wissen, wie die Saison gelaufen ist. Also machte ich mich wie immer auf den beschwerlichen Weg in die Garage, um die steile Bergstrecke zum Heinerhof hinauf zu bewältigen. Wenig später saßen der Knecht und ich zusammen in der Stube auf der Eckbank beim Kachelofen und blickten hinaus auf den wunderbar gefärbten Waldrand. Es war Herbst geworden. Wenige Höhenmeter über uns war sogar schon der erste Schnee gefallen und hatte die Baumwipfel leicht überzuckert.
“Und dann hat er sich eine Watschn eingefangen”, schloß der Knecht seine Erklärung darüber, warum es im nächsten Jahr keine Ferien mehr auf dem Heinerhof geben wird. Er habe keine Lust, seinen sauer verdienten Knechtslohn beim Rechtsanwalt abzuliefern. Aber der Reihe nach …
Generell, so der Knecht, seien die Städter, die ihnen das Reisebüro auf den Hof geschickt habe, eine verzogene Bande von verwöhnten Bratzen gewesen, die gar nicht daran gedacht hätte, Ferien auf dem Bauernhof zu machen, sondern mehr daran, den Bauern, ihn selbst und die Bäuerin mit ihrer Anspruchshaltung zu nerven. Fernseher auf dem Zimmer zu klein, Wasserdruck nicht kräftig genug, Dusche zu kalt, Bett zu weich, Brotzeit zu fett. Funkloch. Die armen Tiere. An allem hätten sie etwas auszusetzen gehabt.
Aus und vorbei mit Ferien auf dem Bauernhof sei es dann eben gewesen, als der Grundschullehrer aus der Stadt, der die ungezogensten Kinder der ganzen Urlaubssaison dabei gehabt habe, mit einer Schadensersatzklage drohte, weil er wegen Benno dem Hahn, der im Sommer jeden Tag in der Früh um fünf auf dem Misthaufen kräht, keinen Tag habe ausschlafen können. Da habe er sich nicht mehr zurückhalten können, erzählte der Knecht. Mitten auf dem Hof sei es gewesen, daß er ihm eine solche Watschn verpasst habe, daß das schmächtige Schulmeisterlein fast einen Salto geschlagen hat. Auf jeden Fall sei es auf dem Misthaufen gelandet, habe den Knecht aus großen Augen heraus ungläubig angestiert und sei dann wutschnaubend in die Ferienwohnung gerannt, um wenig später mit seiner Frau und den beiden verzogenen Bratzen samt allem Gepäck die Stiege wieder heruntergestürmt zu kommen. Die Frau vom Schulmeister sei auch so eine Ziege gewesen, die keine Brotzeit anfaßt, wenn sie sich vorher die Hände nicht gewaschen hat. “Sie werden noch von mir hören!”, habe der Lehrer aus sicherer Distanz zum Knecht hinübergerufen, ehe die ganze Drecksbagage mit ihrem lächerlichen Elektrokarren das Weite gesucht hat.
Dann zeigte mir der Knecht die Vorladung zur Hauptverhandlung, die ihm vor zwei Tagen zugestellt worden war. Der vorsätzlichen Körperverletzung wird er bezichtigt. Eine Sauerei sei das, sagt der Knecht, daß man einem solchen Lappen wie dem siebengescheiten Schulmeisterlein aus der Stadt nicht einmal mehr eine schmieren darf, ohne daß man gleich zum Gericht muß. Er glaube inzwischen, so der Knecht, daß der heutige Stadtmensch als solcher den personifizierten Verat an allem darstelle, was den Leuten auf einem anständigen Bauernhof hoch und heilig ist. Die Städte könnten allesamt und ohne weiteres Sodom und Gomorrha heißen, so verwahrlost wie der heutige Stadtmensch sei. Jedenfalls seien der Heinerhofbauer, er selbst und die Bäuerin übereingekommen, daß sie nächstes Jahr keine Ferien auf dem Bauernhof mehr anbieten, weil es mehr Nerven kostet, als es Geld einbringt. Aber das sei noch nicht das Schlimmste.
Dem alten Obermeier sein Sohn
Ob ich den spinnerten Sohn vom Landmaschinen-Obermeier unten aus dem Dorf, diesen Taugenichts kenne, wollte er wissen. Den kannte ich. Ich wußte, daß er den ganzen Sommer nicht dagewesen war und daß der alte Obermeier die ganze Arbeit hat alleine erledigen müssen, weil sein abgedrehter Sohn lieber auf dem Mittelmeer umeinander gefahren ist, um Schiffbrüchige einzusammeln, die gar nicht schiffbrüchig geworden wären, wenn sie nicht von vornherein gewußt hätten, daß dem Obermeier sein Sohn bloß darauf wartet, sie aus ihren karpfenteichtauglichen Nußschalen auf das Rettungsschiff umsteigen zu lassen. Rekrutiert hatte ihn die neue Pfarrerin. Der alte Obermeier ist seither keinen Sonntag mehr in der Kirche gesehen worden, und es geht das Gerücht um, der alte Obermeier sei es auch gewesen, der der neuen Pfarrerin Zucker in den Tank ihres Autos gestreut hat.
Das Schlimmste, so der Knecht, sei, daß die neue Pfarrerin das Landratsamt und den Bürgermeister habe überreden können, im alten Gemeindehaus Doppelstockbetten aufzustellen, um dort Flüchtlinge unterzubringen, die dem Obermeier sein Sohn jetzt in Bussen direkt aus Weißrussland herankarren läßt. Dabei seien das nicht einmal Weißrussen, sondern jede Menge Afghanen, von denen sich die ersten schon darüber beschwert hätten, daß sie in der Früh um sechs vom Gebetläuten der Kirche geweckt werden, obwohl es jetzt im Herbst um sechs in der Früh noch dunkel sei. Und keiner unten im Dorf habe den Afghanen dafür eine geschmiert. Der Sohn vom Obermeier arbeite mit der Tochter des Busunternehmers aus dem Nachbarort zusammen. Der wiederum würde sich eine goldene Nase verdienen mit den Tagessätzen, die er von einer sogenannten Hilfsorganisation dafür einsteckt, daß er die Afghanen in Minsk oder an der Grenze zur Ukraine abholt. Jedenfalls gebe es jetzt eine Menge Afghanen unten im Dorf, die vor lauter Langeweile nicht wissen, was sie den lieben langen Tag treiben sollen. In Gruppen von bis zu zehn Mann – Frauen und Kinder seien keine dabei – zögen sie durch das Dorf und inspizierten alles ganz genau. Die Dorfbauern ließen ihre Töchter nicht mehr allein aus dem Haus, seit sie im Kreisboten gelesen hätten, was mit jungen Mädchen in der Stadt passiert ist, die solchen Gruppen begegnet sind.
Die Afghanen unten im Dorf hatte ich selbst auch schon gesehen. Und die gräßliche Geschichte von den Mädchen in der Stadt hatte ich im Kreisboten gelesen. Nur, daß die Verbrecher Afghanen gewesen sein sollen, das hatte nicht im Kreisboten gestanden.
Dem Obermeier sein Sohn, erzählt der Knecht, werde ohnehin mit Verachtung gestraft unten im Dorf, seit klar ist, daß sein Geplärr im Frühjahr, als er von der Menschlichkeit und der Gräßlichkeit des Ersaufens im Mittelmeer herumgebrüllt hat, nur vorgeschobene Entrüstung gewesen ist. Seit die Sache mit den Flüchtlingsbussen aus Minsk laufe, behaupte er nämlich, daß es gar nicht ums Ersaufen geht, sondern darum, daß das Dorf bunt wird. Und daß er nicht eher damit aufhören werde, afghanische und andere Flüchtlinge aus Weißrussland ins Dorf zu bringen, bis es total bunt zugeht. Wenigstens dafür habe er sich letzthin eine Tracht Prügel eingefangen von den Burschen der Landjugend.
Bei der Landjugend, erzählt der Knecht, kann man Leute nicht ausstehen, die heute dies und morgen etwas anderes behaupten, und dabei noch so tun, als seien sie die kommunalen Moralgruppenführer in den Gauen des ethischen Reichs, weswegen sie allen anderen auch vorschreiben dürften, wie es im Dorf unten zuzugehen hat. In den Löschteich hätten sie dem Obermeier seinen Sohn aber nicht auch noch werfen müssen, nachdem sie ihn infolge einer demokratischen Abstimmung bereits vermöbelt hatten, die Landburschen, erzählt der Knecht. Im Überschwang der demokratischen Empörung angesichts eines solchen Individuums wie dem Obermeier sein Sohn eines ist, sagt er, könne so etwas aber schon einmal passieren.
Der alte Pfarrer
Der Knecht sagt, er denke gern an die Zeiten zurück, als der alte Pfarrer noch dagewesen ist. Der hätte auch von der Landwirtschaft noch etwas verstanden. Und daß der alte Pfarrer keine Milch getrunken hat, wenn die Kühe mit Raps gefüttert worden sind. Die neue Pfarrerin wisse überhaupt nicht, wie unterschiedlich Milch schmecken kann, weil sie sowieso immer nur die Milch aus dem Supermarkt kauft und nie bei den Bauern in der Stube hockt. Wer von der etwas will, so der Knecht, müsse erst im Pfarrhaus anrufen und einen Termin ausmachen. Jedenfalls sei mit der neuen Pfarrerin auch der Unfrieden im Dorf eingezogen, weswegen er, der Höhenrainer Rudi und der Heinerhofbauer sich etwas überlegt hätten.
Erlebnisurlaub auf dem Bauernhof
Nächsten Monat, wenn es auf dem Hof nicht mehr so viel zu tun gibt, wollten sie sich alle drei als Taliban verkleiden und nach Afghanistan fahren, um sich dort einmal umzuschauen. Sie wüssten, daß es am Hindukusch ein paar schöne Berge gibt. Bestimmt gebe es dort auch verlassene Bauernhöfe, auf welche die Afghanen aus dem Dorf unten umgesiedelt werden könnten. Wenn das hinhaut, so der Knecht, wollten er, der Höhenrainer Rudi und der Heinerhofbauer es mit den Ferien auf dem Bauernhof noch einmal probieren. Man dürfe halt in der Stadt nicht mehr für Urlaub auf dem Bauernhof werben, sondern müsse einen Erlebnisurlaub oder einen Abenteuerurlaub anpreisen. Dann könnte man die verzogenen Stadtmenschen mit ihren vorlauten Kindern auf den afghanischen Bergbauernhöfen im Hindukusch-Gebirge bewirten. Wenn sie dort umeinandermaulen störe es unten im Tal niemanden. Auf dem Heinerhof auch nicht.
Die afghanischen Bergbauern der Zukunft, die jetzt noch verdächtig neugierig durchs Dorf ziehen, hätten dort ihr Einkommen, und wenn die Taliban hin und wieder einmal einem Stadtmenschen den Kopf abschlagen, dann sei es auch kein großer Verlust. Schließlich seien es die Stadtmenschen, die behaupten, es gebe keinen wichtigen Unterschied zwischen ihnen und den Menschen anderswo. Wenn Afghanen wegen des lokalen Brauchtums ihre Köpfe verlieren, so der Knecht, dann sollten sich die Stadtmenschen in Afghanistan lieber über ihre gelungene Integration im Urlaub freuen, anstatt hochnäsig wegen ein bißchen Kopfverlust herumzujammern. Integration sei keine Einbahnstraße, habe neulich im Kreisboten gestanden. Die Frau vom Schulmeisterlein, das ihn jetzt auf Schmerzensgeld verklagt hat, würde in Afghanistan nebenher noch etwas Nützliches lernen, nämlich, daß sie nicht den ganzen Tag Hände waschen – und naseweis ihre öko-esoterischen Weisheiten durch die Gegend krakeelen muß. Ein bißchen Kunstdünger sei noch kein Weltuntergang. Wenn sie den Lernprozeß überlebe, bis sie aus dem Urlaub zurückkommt, sei sie geläutert, prognostiziert der Knecht, wovon wenigstens die Stadtmenschen etwas hätten.
Bestimmt würden er, der Heinerhofbauer und der Höhenrainer Rudi Zuschüsse und viel Wohlwollen für ihr touristisches Vorhaben bekommen, wenn sie sich als Verein organisieren, der sich beispielsweise “Mission Mountainlife Line” nennt. Oder “Hindukusch Watch”. Er selbst, so der Knecht, sei mehr für “Hindukusch Watch”, weil es am Hindukusch bestimmt etwas zu sehen gibt. “Watch” bedeute auch “paß auf”, habe es im Kreisboten geheißen, und im Gebirge müsse man schon aufpassen, wo man hinsteigt. In Afghanistan sogar noch mehr als hier, weil es möglich sei, daß dort das Gebirge vermint ist.
“Abenteuerurlaub für Stadtmenschen auf dem afghanischen Erlebnisbauernhof im lieblichen Hindukusch-Gebirge” halte er für eine hervorragende Idee, so der Knecht. In der Stadt könne man sogar mit einem englischen Slogan dafür werben. “Spice Up Your Life!” gefalle ihm persönlich ganz gut, wenn er an einen Stadtmenschen denkt. Wenn man sich überlege, daß unten im Tal der alte Dorffrieden wieder einkehren würde, sei es auf jeden Fall einen Versuch wert. Selbst die neue Pfarrerin könnten er, der Heinerhofbauer und der Höhenrainer Rudi, vermutlich dafür gewinnen, wenn sie ihr glaubhaft versichern, daß sie es wegen der Menschlichkeit versuchen wollten. Man müsse der neuen Pfarrerin ja nicht auf die Nase binden, daß man eigentlich die Menschlichkeit unten im Dorf meint. Bei der neuen Pfarrerin reiche es schon, wenn sie bloß das Wort “Menschlichkeit” hört, damit sie vor lauter Frömmigkeit die Augen gen Himmel verdreht. Der sei es egal, wo es recht menschlich zugehen soll. Hauptsache menschlich. Außer unten im Dorf. Göttlich sei ihr sowieso wurscht.
Abschied
Es war spät geworden, die Herbstsonne war bereits hinter den Gipfeln verschwunden. Ich erhob mich von der Eckbank vor dem warmen Kachelofen, schimpfte vorher bei einem Stamperl Zwetschger noch einmal mit dem Knecht gemeinsam auf die Stadtmenschen, diese unverschämten und völlig verkommenen Subjekte, und verabschiedete mich. Für seine Reise ins ferne Gebirge wünschte ich ihm viel Glück und äußerte meine Hoffnung, daß sich die Idee mit dem Abenteuerurlaub auf dem afghanischen Bergbauernhof am lieblichen Hindukusch verwirklichen läßt. Sollte ich in der nächsten Zeit nichts von ihm hören, dann wüsste ich ja, wo er gerade sei. Und wenn ich nie mehr etwas von ihm höre, dann wüsste ich wenigstens, wo er verschollen geblieben ist.
“Verschollen blieb der Mann der Scholle”, erwiderte der Knecht lachend, klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter und blieb noch lange in der offenen Haustür stehen. Im Rückspiegel sah ich ihn allmählich kleiner werden.